Der Koalitionsvertrag ist ausgehandelt – die Diskussionen gehen weiter, werden teilweise sogar heftiger, wie die personellen Querelen in der SPD in den letzten Tagen. Viele in der Gesellschaft, Parteibasis und wohl selbst in den Parteispitzen sind mit dem Ergebnis unzufrieden, fühlen sich bzw. ihre Partei übervorteilt oder finden die vereinbarte Politik nicht wegweisend genug. Der Natur des Koalitionsvertrages entspricht es, dass nicht alle Positionen vollkommen verwirklicht werden können.
Aus diesem Anlass hält Rainer Erlinger in seinem lesenswerten Essay „Passt schon“ in der Süddeutschen Zeitung Nr. 34 vom 10./11.02.2018, S. 45 ein Plädoyer für den Kompromiss – nicht den der eventuellen zukünftigen Koalitionäre, sondern für das Konzept als solches, für die Vermittlung divergierender Positionen durch Entgegenkommen schlechthin. Nachdem er eine allgemeine Ablehnung desselben in der öffentlichen Meinung und sogar der Sprache („Nähe von ‚Kompromiss‘ zu ‚kompromittieren'“) diagnostiziert hat, grenzt er ihn von einem zunächst ähnlichen Begriff oder Phänomen, namentlich dem „Konsens“ ab, sieht in ihm letztlich einen Ausdruck von Toleranz. Deshalb sei ein Kompromiss auch erst dann ablehnenswert, wenn die allgemeinen Grenzen der Toleranz aufgegeben, wenn die eigenen „Grundwerte“ verraten würden. Erlinger hält Kompromisse für nützlich, zieht eine Verbindung zwischen der kantianischen Tradition in der Moralphilosophie zur Ablehnung des Kompromisses und stellt diesem kategorischen Richtigkeitsanspruch die abweichende, utilitaristische Tradition anderer ideengeschichtlicher Kulturkreise gegenüber, die kompromissfreundlicher sei. Er schließt sich dementsprechend teilweise dem Philosophen Margalit an, indem er den Kompromiss als Auflösung eines Zielkonflikts zwischen „Frieden und Gerechtigkeit“ sieht, wenngleich er den Frieden durch die Bewahrung der den Kompromiss erforderlich machenden sozialen Institution ersetzen möchte („Demokratie“, „Liebe“, „Gemeinschaft“, „Anerkennung des Gegenübers“). Im Ergebnis erkennt er an, eine kompromissweise Lösung bringe vielleicht weniger das Brillante und Herausragende hervor, wobei er auf den angeblich kompromisslosen Stil des Apple-Idols Steve Jobs verweist, sei jedoch dem Zusammenleben und Gemeinwohl dienlich, wie man am kompromisslosen Kurs einiger Regierungen sehen könne und spiegele die Anerkennung der eigenen Fehlbarkeit wieder – Kompromisslosigkeit sei „Hybris“ und Gott vorbehalten.
Bei jedem Mediator und jedem potentiellen Medianten muss die Feststellung, der Kompromiss sei derzeit in Verruf, Schrecken auslösen. Ist es nicht gerade ein Kompromiss, der Ziel des ganzen Verfahrens, der ganzen Methode der Mediation ist?
Möglicherweise nicht, wenn man Erlinger darin folgen möchte, dass Kompromiss und Konsens etwas abgrenzungswürdig Unterschiedliches und strukturell ganz Verschiedenes seien. Denn in Bezug auf die Mediation ist unentwegt von Konsens und Konsensorientierung die Rede.
Grund genug also, die vorgenommene Abgrenzung genauer nachzuvollziehen, das mediative Vorgehen in dieses Schema einzuordnen und vor diesem Hintergrund die Frage nach dem Wert der Mediation einmal unter Erlingers Blickwinkel zu stellen. Ist das Ergebnis der Mediation eine mehr oder weniger rationale und nützliche Befriedung eines Tauziehens zwischen dem richtigen, aber vielleicht unerkannten Ergebnis und dem Frieden zwischen den Parteien bzw. der institutionellen Basis ihrer Beziehung? Oder handelt es sich vielleicht um ein Resultat, das sich nicht auf diesem eindimensionalen Strang verorten lässt, das jenseits dieses im Ausgangspunkt bestehenden Spannungsfeldes liegt?
Die vorgenommene Abgrenzung ist die folgende: Bei einem Kompromiss würden die eigentlichen Positionen, die Richtigkeitsvorstellungen bewahrt, beim Konsens dagegen aufgegeben. Genau deshalb erfordert der Kompromiss nach Erlinger auch Toleranz. Der Konsens, auf den nach der Abgrenzung nicht weiter eingegangen wird, müsste nach diesem Verständnis eher Ausdruck der Umstimmung, der Überzeugung, der besseren Einsicht sein. Bei ihm sind die Parteien also am Ende einer Meinung, einigen sich aus korrespondierender Überzeugung vom Richtigen und bedürfen der Toleranz nicht mehr. Friede und Gerechtigkeit fallen zusammen, wenngleich auch hier nur subjektive Gerechtigkeitsvorstellungen gemeint sind. Aufgrund dieser Kongruenz ist Motivation zum gemeinsamen Handeln nach dem Konsens auch nur die Richtigkeitseinsicht, der Friede, die Institution ist nicht mehr in Gefahr.
Ganz anders beim Kompromiss, der zwischen diesen Idealen verbleibt und eigentlich nur die Befriedung vollständig (idealiter) herbeizuführen vermag, denn das empfundenermaßen Richtige wurde gerade nicht erreicht. Seine Hauptmotivation muss demnach auch die Befriedung sein.
Wie wenig trennscharf diese Abgrenzung trotz zunächst durchaus struktureller Unterschiede sein kann, wird deutlich, wenn man Erlingers Beispiel für einen intelligenten Kompromiss betrachtet: Zwei Menschen möchten gemeinsam den Urlaub verbringen, einer präferiert die Berge, der andere das Meer. Ein fauler Kompromiss sei in dieser Situation die Entscheidung für eine Reise ins flache Land, ein intelligenter eine Reise an die Côte d’Azur, die bekanntlich am Mittelmeer liegt und zugleich von den Ausläufern der Alpen geprägt wird.
Man muss bei diesem Beispiel die Frage stellen, warum es sich nicht um Konsens handeln soll. Vorweg sei gesagt, dass dieses Resultat auch ein mustergültiges Ergebnis einer Mediation sein könnte. Es erinnert an ein fast schon abgedroschenes Lehrbuchbeispiel für Mediatoren: Zwei streiten um eine Zitrone, letztlich ergibt sich, dass einer nur die Schale für einen Kuchen, der andere dagegen nur den Saft benötigt (z.B. Rabe/Wode, Mediation, Berlin, Heidelberg 2014, S. 1). Problem gelöst, beide sind zufrieden und es sind alle „Bedürfnisse“, die dem Konflikt verborgen zugrunde lagen, befriedigt, zentrales Anliegen der Mediation und gleichsam ihr Zentralbegriff (vgl. Haft/Schlieffen/Groß, Handbuch Mediation, 2. Auflage, München 2009, § 50 Rn. 36 ff.; Haft/Schlieffen/Kessen/Troja, ebd., § 13, Rn. 26).
Gleichwohl ist die Einordnung nach Erlingers Konzept nicht falsch: Beide verbleiben ja schließlich bei ihrer ursprünglichen Präferenz, Berge oder Meer, und niemand überzeugt den anderen. Das allerdings folgt nur daraus, dass die ursprüngliche Präferenz auch entsprechend formuliert wurde. Beschreibt man denselben Fall so, dass einer an die Nordsee, der andere in den Schwarzwald möchte und erkennt an, dass am Ende beide wirklich an die Côte d’Azur wollen, weil es ihren Bedürfnissen genauso gut entspricht, hat zwar nicht einer den anderen überzeugt, beide sind aber zu einer dritten, neuen und gemeinsamen Überzeugung gelangt: Konsens also. Die als strukturell erscheinenden Unterschiede in der Konzeption Erlingers erweisen sich damit als formulierungssensibel bzw. ebenenabhängig. Je nachdem, wie der Konflikt in Sprache übersetzt und konstruiert wird, je nachdem, welche Konfliktebene (Ergebnisforderung oder Bedürfnisse) betrachtet wird, folgt eine andere Einordnung, jedenfalls in manchen Fällen.
Eine derartige Abgrenzung bringt also für die Beurteilung einer Mediation keinen Gewinn, sie vermag es nicht, ein mediatives Ergebnis vom Ergebnis eines verhandlerischen Tauziehens zu unterscheiden. Sie schärft aber das Verständnis dafür, was Ziel einer Mediation sein sollte und was optimalerweise auch das Ziel jeder anderen Form von Konfliktlösung sein muss, ob es sich nun Kompromiss oder Konsens nennt. Es geht, einer bekannten Wendung folgend, nicht darum, den Kuchen zu verteilen, sondern darum, ihn größer zu machen (vgl. Fisher/Patton/Ury, Das Harvard-Konzept, Frankfurt, New York 2009, S. 93, 108, 241). An der Côte d’Azur entsteht insgesamt, also für beide zusammen, tatsächlich mehr Nutzen als im Schwarzwald oder an der Nordsee. Das liegt aber nicht nur daran, „dass es in einer Gemeinschaft ein Wert an sich ist, wenn eine Lösung möglichst viele berücksichtigt und von möglichst vielen mitgetragen wird […] [a]uch weil ein Kompromiss eine Anerkennung des Gegenübers beinhaltet“, sondern daran, dass beide Richtigkeitsvorstellungen oder „Grundwerte“ in Wirklichkeit gar nicht konfligieren. Sie lassen sich zugleich verwirklichen und um das herauszufinden, bedarf es der Aufklärung durch konstruktive Kommunikation. Genau diese soll eine Mediation bewirken.
Es wurde oben die Frage gestellt, ob das Ergebnis einer Mediation ein Ausgleich zwischen subjektiv Richtigem und Befriedung ist oder ob es jenseits dieses Spannungsfeldes liegt. Die Antwort folgt zwar nicht dieser strikten Alternativität, tendiert aber zu Letzterem:
Ausgangspunkt einer Mediation sind durchaus (scheinbar) divergierende Positionen. Motivation zur Teilnahme an einer Mediation ist typischerweise der Wunsch nach Befriedung und diese Motivation ist regelmäßig erforderlich, um die Parteien zur Kooperation zu motivieren und davon abzuhalten, dass Richtiggeglaubte vor Gericht zu erstreiten. Weg und Ziel der Mediation ist es nicht, eine Partei zu überzeugen, einen Konsens nach dem engsten oben diskutierten Verständnis dergestalt zu erreichen, dass eine von ihnen ihre „Grundwerte“ aufgibt, sei es auch aus neuer Überzeugung. Ziel ist es aber, schon bestehende gemeinsame „Grundwerte“ auf einer neuen, noch nicht erkannten Ebene herauszuarbeiten, von dieser Bedürfnisebene auf möglichst kreative Weise wieder hinaufzuklettern zu den konkreten Forderungen und dabei hoffentlich festzustellen, dass die Handlungsoptionen gar keinen Kompromiss erfordern, weil sie beiden vollständig oder fast vollständig gerecht zu werden vermögen (Haft/Schlieffen/Kessen/Troja, aaO, Rn. 8 f.). Mit dem Ergebnis sind, im Optimalfall, beide vollends zufrieden, halten es in Gänze für „richtig“ und eben gerade nicht für einen Kompromiss durch Nachgeben. „Grundwerte“ haben sie dabei nicht aufgegeben, jedenfalls nicht auf der Ebene, die emotional oder auch wirtschaftlich entscheidet.
Mediative Ergebnisse entgehen damit in erheblichem Maße der von Erlinger angedeuteten Grundentscheidung zwischen voller kategorischer Durchsetzung und nützlichem Nachgeben. Dies gilt unabhängig davon, ob die Richtigkeitsvorstellungen, wie im Fall der Koalition, tatsächlich moralische Implikationen aufweisen oder schlichte Interessen widerspiegeln. Selbst wenn der Kompromiss also momentan als „blutleer und feige“ gilt, ist das kein Angriff auf jegliche friedliche Konfliktlösung, sondern deutet nur auf empfundene Fehler bei ihrer Umsetzung hin. Eine kreative Lösung, sei es durch Mediation oder wie auch immer, ist nämlich insofern „bluthaltig“, als sie hohes Engagement und besondere Schärfung der eigenen Position, gerne auch leidenschaftlich, erfordert und insofern mutig, als sie neue Wege hervorbringt. Dass die Ergebnisse weniger brillant sind als bei autoritärer Durchsetzung eines einzelnen Genies mag im Rahmen von wissenschaftlichen und technischen Meinungsstreitigkeiten stimmen; im praktisch häufigeren Kontext divergierender Individualinteressen spricht dafür nichts.
Erlingers Plädoyer ist daher zu erweitern: Der Ruf der Einigung ist zu retten, indem ihr Potential ausgeschöpft wird. Sie bietet Mehrwert nicht nur (allerdings auch!) durch Frieden und Anerkennung, sondern durch bessere, d. h. richtigere Lösungen. Dies nicht deshalb, weil das Erkenntnisvermögen begrenzt ist, wie Erlinger nahelegt – es könnten auch beide irren oder der Mächtigere, Durchsetzungsstärkere am Ende recht behalten – sondern weil schon ganz allgemein fraglich ist, ob es das objektiv Richtige überhaupt gibt. Falls dem nämlich nicht so ist, ist das Richtige das Bedürfnisgerechte und dem kommt, wie gezeigt, eine mediative Einigung am nächsten. Dies gilt umso mehr, als es in den allermeisten Konflikten ganz offenkundig nicht um Moral oder Politik, sondern das eigene Wohl und Interesse geht.